Prolog

Seit dem vertrackten Corona Shutdown, welchen ich am eigenen Leib erfahren hatte, gibt es für mich nur noch eine Freizeitbeschäftigung. Ich halte mich strikte an die Empfehlungen meines Cousins, welcher mich telefonisch durch die Krise geleitete und damit wesentlich mehr zu meiner schnellen Genesung beigetragen hatte als jeder tatsächlich anwesende Arzt. Ich latsche was das Zeug hält. Tage ohne mindestens 13000 Schritte werden mittlerweile zur Qual und ich verstehe langsam alle joggenden Endorphin Junkies.

Nachdem ich alle Wege im Umkreis von 10 km bereits kenne habe ich angefangen während der immer mehr ausufernden Spaziergänge Hörbücher oder Musik zu hören. Gestern gegen Abend, ein unglaublich angenehmer leichter Nieselregen begleitete mich auf meinem Schrittwerk, beschloss ich mir das Buch vom Süden ein drittes Mal anzuhören. Über 150 Kapitel reinste André Heller Gedanken über den Süden, Frauen, die Mutter und den Vater, den Tod und das ewig präsente, von den Eltern geerbte, Kriegstrauma. Das Ganze von im daselbst vorgelesen, für mich etwas unglaublich Tolles, für manch anderen ein unerträgliches, immer gleiches Gelaber.

Irgendwie blieben mir nur die Stellen über den Tod in Erinnerung und mein Unterbewusstsein krallte sich darin fest während ich wie immer ein kleines Glas gespritzten Weißwein trank und mich dann zu Bett begab.

Der unerwartete Besuch

Im Bett holte mich dann mein Unterbewusstsein doch noch ein und ich musste an all die bereits in die andere Welt abgereisten Menschen denken. Vater, René, mein viel zu früh verstorbener Cousin, mein mir leider nicht bekannter Halbbruder väterlicherseits und zuletzt Martha. Die Erinnerung an Sie war für mich immer die einer 20-jährigen jungen Frau, von der ich immer dachte, was mein Cousin doch für ein Glück hatte. Ich konnte die Erinnerung an Sie nie mit der Realität unseres letzten Treffens in Übereinstimmung bringen. „Und jetzt ist sie einfach gegangen!“ war mein letzter Gedanke, bevor ich wie immer, wenn ich das Licht ausdrehe sofort einschlief.

Eigentlich ist Schlaflosigkeit keines der Probleme, die ich zu bekämpfen habe. Doch manchmal kommt es vor, dass ich glaube etwas zu hören wie das Drehen eines Schlüssels im Türschloss oder ein Rascheln an den Fensterrollos. Meistens steh ich dann auf und bis ich die Ursache des Geräusches zu finden glaube, weiß ich oft nicht mehr warum ich eigentlich aufgestanden bin.

Gestern war das aber ganz anders. Das Gefühl, dass sich etwas neben mir auf den Bettrand gesetzt hatte ließ mich aufwachen. Es war hell und ich dachte zuerst das ich wohl vergessen hatte das Licht zu löschen. Ich drehte mich um und staunte nicht schlecht, da saß doch tatsächlich Marilyn Monroe auf meinem Bettrand, eingehüllt in einer Art Aura  und schaute mich rotzfrech an. „Holla, was für ein Traum!“ dachte ich mir, als sie ganz einfach: „Hallo, du träumst nicht!“ sagte. Ich rieb mir die Augen und als ich was erwidern wollte hatte sie sich schon in Ornella Muti verwandelt und meinte: „Nur weiter so!“. Sie konnte es kaum fertig sagen, da sass auch schon Sophia Loren der 60er vor mir. Ich dachte wieder: “Was für ein Traum!“, als Sophia ausholte und mir eine satte Ohrfeige verpasste, die mich in die Kissen zurückwarf. „Hör auf damit!“ meinte sie ziemlich genervt. Ich wusste keine Antwort und hab wohl nur doof geglotzt, Sophia blieb aber ruhig sitzen und veränderte sich nicht mehr. Sie sagte: „Wenn du deine ganzen Kindheitserinnerungen und Fantasien durchgehst hört das nie auf. Also bitte konzentrier dich auf eine Person und dann bleib dabei!“. Der Traum war wirklich super, ich schloss also meine Augen und konzentrierte mich. Wer hätte gedacht das schlussendlich Adele Neuhauser vor mir sitzen würde? Natürlich auch in einer Aura und natürlich auch nur geträumt. Vermutlich eh nur weil ich mir kurz vorher einen Film angeschaut hatte, in welchem sie eine Hauptrolle innehatte. Adele schien Gedanken lesen zu können denn sie holte wie vor ihr Sophia zu einer erneuten Ohrfeige aus und meinte dazu lakonisch bevor sie zuschlug: „Nochmal, du träumst nicht!“.

Was blieb mir übrig als es ihr zu glauben? „Ich glaube Dir ja!“ sagte ich ihr und plötzlich wurde mir die Absurdität der Situation bewusst. Ich redete scheinbar wach mit einer Schauspielerin, deren Antlitz ich mir einfach so aussuchen konnte?

„Mein lieber Freund“ sagte Adele, „du träumst natürlich nicht! Im Gegenteil fass mich einfach an, dann merkst du es schon!“. Ich bin familiär bedingt äusserst stur, tat also gar nichts und so kam es, dass Adele mich so richtig ins Bein zwickte. Es tat höllisch weh, denn sie verfügte offensichtlich über Bärenkräfte. „Glaubst du mir jetzt endlich?“ fragte sie und ich bejahte mit einem trotzigen Nicken.

„’Ihr’ habt mich hergeschickt, um mit Dir zu sprechen.“ meinte die Adele.

Ich konnte nicht anders, also begann ich den Mund aufzumachen, um etwas zu erwidern, kam aber nicht weit denn Adele redete einfach weiter.

„Oder sagen wir ‘Sie’ haben mich geschickt, oder vielleicht besser ‘Es’? Hmm, wir bleiben bei ‘Ihr’, Ihr alle. Ihr meintet es könne nicht sein, dass du die Zeit, die dir hier verbleibt, und glaube mir verglichen zur Ewigkeit ist deine Zeit hier verdammt kurz, es könne also nicht sein, dass du deine Zeit mit irrationalen Ängsten oder gar der Angst vor dem Tod verbringst!“
„Also besuch ihn mal, erklär ihm das Wesentliche und schau zu das er mehr genießt, anstatt sich mich sinnlosen Gedanken zu beschäftigen. Ihr sagtet es und schicktet mich her. Hier bin ich jetzt also!“

Ich setzte grad zu einer Antwort an, als Adele wieder einfach weiterredete. „Also ich soll dir jetzt den ganzen Karsumpel über das Leben den Tod und den ganzen Rest auseinandersetzen. Fangen wir mit dem Einfachen an. Erstens du lebst nicht wirklich, nichts ist wirklich real und du kannst auch nicht sterben, denn dazu müsstest du ja erst mal leben. Noch Fragen oder kann ich wieder gehen?“

„Wird das jetzt so eine metaphysische Nummer?“, fragte ich, denn esoterisch angehauchter Mumpitz geht mir immer sofort auf die Nerven.

«Nicht doch, nix metaphysisch. Hast du schon mal die großartigen Bilder, die eure Weltraumteleskope machen angeschaut?»

«Klar! Die mag ich.» meinte ich.

«Denkst du tatsächlich das ist einfach so entstanden? Endlosigkeit, irgendwelche explodierenden Sterne und mitten im nichts ein Planet mit ein paar halb-intelligenten Affen? Wozu sollte das gut sein?»

«Das frage ich mich jetzt schon seit bald 60 Jahren! Aber jetzt bist Du ja da Adele! Erklär es mir! Und überhaupt, warum sagst du immer Ihr? Ich gehör da nicht dazu, also sag bitte ‘Sie’».

Die Bemerkung passte Ihr gar nicht und sie zwickte mich nochmal. Es tat weh. Ich konnte mich nicht erinnern jemals so realistisch geträumt zu haben. Sie schien in sich zu horchen und Ihr Mienenspiel widerspiegelte ein fast unhörbares Zwiegespräch: «Jahaa….er hats nicht geglaubt, ja den Standardspruch von wegen Leben und Tod alles nur Pipapo…., was..ja na gut ich zeig es Ihm.». «Aber ich will nachher nichts hören!», platzte sie plötzlich laut heraus und fing an in Ihrer Umhängetasche zu nesteln.

Mit einem Ruck riss Sie ein banales altes Smartphone aus der Umhängetasche und streckte es mir entgegen: «Da, nimm und lass Dich belehren!». Bei dem Befehlston und der Gefahr nochmal gezwickt zu werden griff ich sofort nach dem Gerät und glotzte auf das Display. Nichts, nur ein Ameisenbild wie man es früher bei den Röhrenfernsehern oft hatte, wenn das Signal verloren ging. Ich schaute zu Adele, dann wieder auf das Display: «Nichts, da ist nichts, nur Bildstörung!»

«Etwas Geduld bitte!» erwiderte Sie und tatsächlich, das Bild änderte sich zu reinem Weiss und mir schien als höre ich aus dem Lautsprecher ein altbekanntes Husten.  Ich weiss nicht wie doof ich geschaut habe, aber Adele prustete laut heraus als sie meine Reaktion auf das sah, was sich auf dem Display des Smartphones zeigte.

Da war ein Mann, ein hustender etwa 70 Jahre alter Mann, der mich anschaute und mit einem lustigen Mischmasch-Dialekt: «Junge, wo kommst du denn her?» sagte. «Du bist doch noch gar nicht hier? Oder doch?». Mir blieb der Atem weg und ich musste mehrmals leer schlucken bis ich: «Papa!??» sagen konnte.

«Ich versteh das gar nicht, du bist alt geworden, dabei warst du doch erst mit deinem kleinen Jungen bei mir zu Besuch?» sagte Papa weiter. «Das war vor 28 Jahren…», stammelte ich. «28 Jahre?» meinte Papa: «Jahre? Ich weiss jetzt grad gar nicht was du meinst?» sagte er weiter und schaute fragend zur Seite: «Weisst du was er meint?». Während er fragte änderte sich sein Antlitz von dem eines 70-jährigen zu dem eines Mittdreissigers. Eines Mittdreissigers mit einer Zigarette in der Hand, an welcher er jetzt genüsslich zog und alles um sich herum zu vergessen schien.

Der Gefragte, der plötzlich einfach auch mit dabei war und den ich zuerst nur von Hinten sah drehte sich um. Da stand leibhaftig mein Bruder und schaute mir direkt in die Augen. «Na du bist aber alt geworden!» sagte er schnippisch lächelnd, «Aber denk nicht zu viel, lass Dir erklären. Papa ist zu fest mit seiner Zigarette beschäftigt, schliesslich die erste seit….. nun ja, die Erste insgesamt.»

«Was für ein schräger Traum!» murmelte ich vor mich hin. Prompt zwickte mich Adele wieder, schaute mich dabei keck an und schüttelte langsam, verneinend den Kopf: «Kein Traum! Hör zu was er zu sagen hat!».

Mein Bruder schien an eine Scheibe zu klopfen, um meine Aufmerksamkeit wieder zu gewinnen und als ich wieder ins Display schaute, fing er an zu erklären.
«Ich und auch Papa und übrigens dort hinten auch dein Taufpate mit dem Medizinballbauch, sind nicht wirklich irgendwo und telefonieren mit Dir.» Tatsächlich war auch mein Taufpate plötzlich aufgetaucht. Aber nicht etwa, um mit mir zu sprechen, sondern nur um mit meinem Vater eine Zigarette zu rauchen und mit Ihm in unverständlichem Ungarisch zu tratschen. Nach fast 30 Jahren musste da eine Menge zu besprechen sein.
Mein Bruder lächelte wieder und meinte: «Das mit den Gewohnheiten drückt sogar hier durch! Aber lass mich weiter erklären. Papa fragte ja, was Du mit ‘Jahre’ meinst. Hier gibt es keine Zeit. Ohne Zeit gibt es auch keinen Raum. Das habt Ihr ja schon rausgefunden. Also sind wir nicht irgendwo, sondern nirgendwo oder meinetwegen überall.  Ich bin auch nicht René wie du vielleicht glaubst, sondern das Universum hat beschlossen die Erinnerung an mich extra für Dich zu manifestieren, damit du jemanden Bekanntes siehst! Das ist gut gegen etwaige Traumata!»

Ich war platt und dachte wieder daran noch nie so geträumt zu haben. Mein Vater und mein Taufpate waren inzwischen im Hintergrund in der Phase des direkten Streitgespräches angekommen, was sich meistens in ungarischen Flüchen und äussert gestenreicher Sprache äusserte. Mir wurde richtig warm ums Herz, denn genau so hatte ich es in Erinnerung und genau so musste es auch sein.

Mein Bruder blickte kurz zurück und drehte sich mir dann wieder zu, erstaunlicherweise mit dem Gesicht eines 15-jährigen: «Ich versteh das nicht. Irgendwie bleibt wirklich was hängen, oder das Universum hat einen Hang zur Groteske? Egal… sagte ich schon, dass ich nur eine manifestierte Erinnerung bin um Dir das Ganze etwas zu erleichtern?» Ich wollte grad zu einer Antwort ansetzen, da redete er einfach weiter, diesmal mit Vollbart: «Ja sagte ich. Also wir sind Erinnerung, ohne Zeit und ohne Raum. Das Universum ist Erinnerung, wichtige Erinnerung. Wenn du willst kannst du es auch ‘höheres Energiepotenzial’ nennen. Wir kamen in eine Welt mit Zeit und Raum, haben Erinnerung und Erfahrung angesammelt und diese danach wieder zurückgebracht. Zu Wohle des Universums, also zum Wohle von einfach Allem. Lass das mal setzen».

«Und dann? Existiere ich nach dem Tod nicht mehr als Individuum?» konnte ich jetzt endlich fragen.

«Das tust du jetzt schon nicht, was du als Individuum bezeichnest ist nichts weiter als ein ‘AddOn’ um Erinnerungen speichern zu können. Ihr nennt es das Ich Bewusstsein. Tiere können zwar auch Erinnerungen speichern, aber nur als Emotionen. Menschen können da etwas mehr, glaube ich zumindest.» erwiderte er. «Abschliessend kann ich nur sagen,» meinte er: «In Sorge um das Nachher zu leben ist nicht allzu spannend für das Universum. Solche Erinnerungen mögen wir eigentlich gar nicht. Immer wieder mal hat es versucht dies einzubringen, aber die Boten oder meinetwegen Propheten konnten das nicht richtig vermitteln und es wurde immer schlimmer, weil jedes Mal eine neue, angstdurchsetzte Religion entstand. Der einzige der das ein bisschen drauf hatte war Siddhartha, aber die Story mit dem Karma hat leider auch ein Bisschen mit Angst vor Bestrafung zu tun.»

Sogar im Traum kriegte ich meinen Mund nicht mehr zu und mir brannten bereits tausende Fragen auf der Zunge. René aber redete einfach weiter und meinte: «Du merkst, kein Grund zur Sorge, egal was passiert es geht nur um Erinnerungen. Schau zu viele für Dich gute Erinnerungen zu haben. Mehr ist nicht zu sagen.». Er schaute mich an und mir war ich hätte ein wehmütiges Blitzen in seinen Augen gesehen. Wider schnitt er mir das Wort ab: « Also machs gut und bis gleich!» sagte er mit einem Lachen und schon war wieder das Ameisenbild auf dem Display.

Ich schaute auf und da sass immer noch Adele. Sie nahm mir das Smartphone aus der Hand und musterte mich ganz genau. «Keine bleibenden Schäden? Alles verstanden? Kein Therapiebedarf?».

«Nein, kein Therapiebedarf, aber ich weiss nicht ob ich mit dieser Story nicht sofort in der Psychiatrie lande?»

«Aber natürlich wirst du das!» rief sie schon beinahe. «Darum muss ich diesen Job auch bei unzähligen Leuten machen. Einer allein kommt in die Mühle, Hunderttausende auf einen Schlag haben da sicher bessere Chancen! Quasi ein Propheten-Flashmob!». Sie lachte lauthals bei der Vorstellung.

Ich weiss nicht ob sie das ernst meinte, aber als sie mir dann eine Hand voll Schlafsand ins Gesicht warf zuckte ich zusammen, konnte grad noch: »Ich will aber kein Prophet sein…» stammeln und bekam noch unmittelbar vor dem Wegtreten mit, wie Ihr das Smartphone auf den Boden fiel und das Display splitterte. Ihr Fluchen beschreib ich jetzt besser nicht.

Epilog

Irgendwann um genau zu sein wie immer um 05:30 bin ich dann aufgewacht. Der Traum war wie eine echte Erinnerung in allen Details präsent. Wie immer brauchte ich nochmal eine halbe Stunde um mich endlich zum Aufstehen durchzuringen. Eine halbe Stunde in der ich nur über das Geträumte nachdachte und es peu à peu als wirklich verrückten Traum abtat.

Erst die Glasscherben in meinem linken Fuss, welche direkt neben dem Bett gelegen hatten und die ich mir beim Aufstehen als Aufweck-Zückerchen reingezogen habe, liessen mich dann stutzig werden…..?!

Das Zitat stammt von Douglas Adams „Per Anhalter durch die Galaxis“ und ich bitte Ihn meine Anpassungen und die dreiste Verwendung seines Geschreibsels zu entschuldigen.